Wie ich auszog, das Reden zu lernen
Aufgewachsen mit fünf Geschwistern könnte man meinen, ich hätte zuhause genug Kommunikationsmöglichkeiten gefunden. Jedoch zog es mich schon mit 4 Jahren raus in neue Welten, als ich unbemerkt aus dem elterlichen Garten ausbüxte, um eine Straßenecke weiter bei einer befreundeten Familie zu klingeln und diese zuzutexten.
Mein weiterer Weg führte mich während meiner Studienzeiten für jeweils ein Jahr nach Frankreich und England, um auch dort das Reden in deren Sprachen zu lernen.
Wenig überraschend entpuppte sich die Verwendung des einen oder anderen gelernten Wortes durchaus auch mal als amüsantes Missverständnis: Als ich im Theater erkunden wollte, ob es eine Pause gäbe, verwendete ich das für Schulpausen gebräuchliche Wort récré (récréation = Erholungspause) und erntete schallendes Gelächter, da es im Theater entracte heißt und meine Begleiter wohl das Bild im Kopf hatten, wie ich nach dem ersten Akt auf den Pausenhof eile.
Auch der Blick aus der fremden Kultur heraus auf Deutschland und die Deutschen war sehr erhellend. Insbesondere, da ich 1989 in Paris auf einem winzigen Schwarz-Weiß-Bildschirm die unglaublichen Bilder des Mauerfalls aus französischer Perspektive erlebte – inklusive der unterschwellig spürbaren Befürchtungen zur möglichen dominanten Rolle eines großen Deutschlands mitten in Europa.
Im London der 90er lernte ich die dort schon früh existierende Sharing Community in Form von Berufstätigen-WGs kennen, war überwältigt von der trotz latenter Bombengefahr herrschenden Hilfsbereitschaft in Tube und sonstiger Öffentlichkeit und freute mich über die Liebenswürdigkeit, in der ich von mir unbekannten Kioskbesitzern oder nie zuvor gesehenen Kassiererinnen mit Love und Dear angeredet wurde.
Gleichzeitig tauchte ich ein in die spannende Welt der Personal- und Organisationsentwicklung von europäischen Wirtschaftsunternehmen, nachdem ich Lernen und Studieren bislang überwiegend mit Schule und Universität in Verbindung gebracht hatte.
Nach somit verschiedenen längeren Stationen in den unterschiedlichsten Beschäftigungsverhältnissen von der studentischen Hilfskraft über die Angestellte und Beamtin in entsprechend breitgestreuten Organisationsformen bin ich seit 2005 selbstständig als Beraterin, Trainerin und Coach in verschiedenen Kooperationen.
In der Zusammenarbeit und dem Austausch mit wunderbaren Kollegen in Intervisionsgruppen, durch erstklassige Aus- und Weiterbildungen, bei nationalen und internationalen Kundenprojekten, während beruflicher wie privater Reisen gewinne ich immer wieder neu die Erkenntnis, nie angekommen zu sein, niemals Recht zu haben, sondern beständig als Lernende unterwegs zu sein, die immer neue Facetten des Lebens und Arbeitens von Menschen in Organisationen erfährt.
Schon vor Jahrzehnten bei der Lektüre von Michael Endes Momo berührend als eine ganz besondere Fähigkeit kennengelernt und durch die im Jahr 2016 erlernte Methode der Dynamic Facilitation weiter als anwendbares Format in Gruppenprozessen professionalisiert, betrachte ich die Notwendigkeit des Zuhörens keinesfalls als eine banale Binsenweisheit.
Selbstverständlich hören wir unseren Mitmenschen zu, so wie Siri uns ebenfalls zuhört, wenn das entsprechende Smartphone neben uns liegt. Aber ist damit automatisch ein Raum geschaffen, in dem der andere tatsächlich mit seinen Ideen und Vorstellungen Platz findet, ihm offen und interessiert begegnet wird? Ein Raum, in dem Neues, Innovatives, Gemeinsames entstehen kann, so wie es in unserer Zeit des extrem sich potenzierenden Wissens, Fortschritts und Wandels notwendig ist?
Geprägt von den Ideen und Erkenntnissen aus z.B. Juval Noah Hararis Homo Deus, Clare Graves Spiral Dynamics und Fréderic Laloux’ Reinventing Organizations bin ich zutiefst davon überzeugt, dass wir keine Zeit zu verlieren haben, um in gemeinsamer Ko-Kreation dafür zu sorgen, gesunde, profitable und erfüllende Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle zu gestalten.